Damit das Leben ein Leben bleibt
Nicole Kespe begleitet im neuen SAPV-Team Sterbende in ihren letzten Wochen
„Wenn ältere Menschen sterben, ist das ein Stück weit der Lauf des Lebens. Wenn wir junge Menschen betreuen, denke ich immer: Versterben ist dramatisch für alle. Es ist ein Trauma. Es bleibt ein Trauma. Auch mit uns ist es ein Trauma. Aber ich hoffe immer, es so gering wie möglich zu halten, dadurch, dass die letzte Lebensphase zu Hause stattfinden kann statt in der Klinik. Es ist schön zu sehen, dass das Leben am Ende wirklich ein Leben ist.“
Palliativ Care Fachpflegekräfte wie Nicole Kespe sind dafür da, dass Sterbenskranke möglichst schmerzfrei bei möglichst klarem Bewusstsein ihre letzten Wochen und Tage zu Hause erleben – dass ihr Leben ein Leben bleibt. Sterben und Tod hat für die 35-Jährige keinen Schrecken, hatte es noch nie – ohne Menschen wie sie könnten andere nicht selbstbestimmt zu Hause sterben, begleitet und behütet in ihren Familien oder von ihren Freunden. Seit August arbeitet die examinierte Krankenschwester und ausgebildete Palliativ Care Fachpflegekraft im neuen SAPV-Team, das die Landkreise Aschaffenburg und Miltenberg sowie die Stadt Aschaffenburg versorgt. SAPV heißt spezialisierte ambulante Palliativ-Versorgung für Patienten, die so krank sind, dass rund um die Uhr medizinische Hilfe für ihre Schmerzen, ihre Luftnot, Übelkeit und ihre Schlafprobleme erreichbar sein muss. Für ihr Leben zu Hause ist das eine zeitaufwändige Aufgabe. Das SAPV-Team, das aus vier Pflegekräften und drei Palliativärzten besteht, hat diese Zeit.
Manche Familien brauchen nur medizinische Betreuung, andere haben überhaupt keine Erfahrung mit Sterben, dritte streiten um die richtige Pflege. „Und manche brauchen einen als Menschen, um diese Zeit überstehen zu können. Dann geht es um alle. Ohne die Familie funktioniert es nicht zu Hause zu bleiben ohne Krankenhaus.“ Eine, zwei oder mehr Stunden verbringt Nicole Kespe dann in der Familie. „Ich denke, dass jeder Mitarbeiter in der Palliativ Care ein Empath sein muss. Wir müssen ganz schnell drin sein in diesen Energien, die in den Familien passieren, um dann auch reagieren zu können. Das passiert einfach. Man geht hin, fühlt sich einen Moment ein. Aber da muss man sich von Hausbesuch zu Hausbesuch einstimmen. Manchmal sind wir froh, dass wir längere Fahrtstrecken haben.“ Am Tag besucht sie maximal vier Patienten. Die Kernarbeitszeit von acht Uhr morgens bis halb fünf nachmittags „überschreiten wir oft. Es wird dann acht, neun, zehn Uhr, bis wir heimkommen. Da braucht es daheim viel Verständnis und ein gutes Netzwerk.“ Denn nach den Besuchen muss sie noch dokumentieren, organisieren, telefonieren – zwei Stunden rechnet sie dafür. Sie arbeitet vier Tage pro Woche, dazu kommen zwei Bereitschaftsdienste pro Woche und jedes vierte Wochenende.
An die 100 Sterbende hat das SAPV-Team seit August betreut; sehr junge, kaum zwanzig Jahre alt, und sehr alte, über 90-Jährige. Fast alle hatten Krebs, so wie Gabi Metzger, eine der ersten Patientinnen im August. „Das Team hat uns ganz arg geholfen“, sagt Ralph Metzger aus Mainaschaff. Er hatte seiner an Lungenkrebs erkrankten Frau versprochen, dass sie zu Hause sterben darf, „ohne dass ich wissen konnte, ob ich das halten kann. Ohne das SAPV-Team wäre es nie und nimmer möglich gewesen. Allein schon die Luftnot meiner Frau wurde zum Ende hin immer schlimmer, da hätten wir sicher irgendwann den Notarzt rufen müssen.“ So aber riefen sie das SAPV-Team, das „die Luftnot immer in den Griff gekriegt hat“. Dass die 60-Jährige erst ganz zum Schluss eine Morphiumpumpe gegen die Schmerzen wollte, hat das Team nie diskutiert. „Was will der Patient? Das zu erreichen ist unser Ziel. Deshalb ist das Erstgespräch das allerwichtigste. Hier wird mit ihm und nur mit ihm geklärt, was er will“, sagt Nicole Kespe. „Wir gehen den Weg mit, den der Patient und die Angehörigen für den besten halten“, sagt Almut Föller, die leitende Ärztin des SAPV-Teams.
Und sie helfen Situationen zu erkennen und einzuordnen. „Als Laie sind Schmerzen ganz schwer einzuschätzen“, sagt Marianne Kryczak aus Alzenau, deren Mann im September an Bauchspeicheldrüsenkrebs verstorben ist. „Er hatte sowieso schon massive Schmerzen, aber ich hätte nie gedacht, dass es am Ende noch schlimmer werden könnte. Die Fachkompetenz des Teams war da ganz, ganz wichtig.“
Diese Kompetenz hat Nicole Kespe in der ein Jahr langen Ausbildung zur Palliativ Care Fachpflegekraft erworben. „Ich war schon im Krankenhaus immer die, die todkranke Patienten bekommen hat. Die kommen zum Sterben, die geben wir mal Nicole.“ Einer jungen Krankenschwester Anfang 20, die auf der neurologischen Station Patienten aus ihren OP-Tüchern schält. Die Kanülen zieht. Die versucht, „es den Leuten so angenehm wie möglich zu machen. Ich habe auch die Angehörigen eingeladen mit dazubleiben. Die anderen auf der Station wollten sich nicht damit befassen. Aber für mich war es schön, wenn die Familien hinterher sagten: Es war gut, es war nicht schrecklich.“ Nach der Ausbildung arbeitet sie dreieinhalb Jahre lang in einem hessischen SAPV-Team. Seit August ist sie in Aschaffenburg dabei, von der ersten Stunde an. Was macht ihre Arbeit aus?
„Ganz einfach. Ehrliche Menschlichkeit. Darauf baut der Rest. Wir sind menschlich. Und wir sind ehrlich. Wir sprechen alles aus. Wir kommunizieren ganz anders. Nicht durch die Blume. Sondern wir sagen direkt, was passiert. Das fängt schon bei uns im Team an, wir müssen mit hohem Vertrauen miteinander umgehen, weil es um eine Endgültigkeit geht. Gerade wir Schwestern: Wir sind die Ersten, die rausfahren. Da geht es um Leben und Tod. Wenn wir Entscheidungen treffen, wenn wir am Bett Medikamente geben, muss sich unser Arzt auf uns verlassen. Wir sind in einem hochsensiblen Setting drin. Der Tod ist unumkehrbar. Die Entscheidungen kann man nicht mehr gutmachen. Deshalb müssen wir im Team blind miteinander umgehen. Weil wir ganzen Familiensystemen den Rücken stärken. Wenn wir keine starke Einheit sind, funktioniert das nicht.“
Die medizinische Kompetenz ist die eine Seite. Die behutsame, menschliche die andere. „Das Team hat eine hohe Kompetenz nahezubringen, welche Schritte sich noch lohnen, was an Eingriffen noch sinnvoll ist, und warum Dinge passieren“, sagt sich Marianne Kryczak. Die erste Nacht daheim, nachdem ihr Mann aus dem Krankenhaus entlassen worden war, sei am schlimmsten gewesen. „Mein Mann war unruhig, er wollte mitten in der Nacht duschen gehen, er hatte stärkste Schmerzattacken.“ Dass sie Hemmungen hatte, hat die Bereitschaftsnummer zu wählen, geht ihr nach. Doch wie hätte sie wissen sollen, dass ihr Mann nur noch zwei Tage hat?
Das SAPV-Team ermutigt immer wieder, die Nummer zu wählen. Eine Pflegekraft und ein Arzt sind immer erreichbar. „Sie ist unser wichtigstes Instrument“, sagt Nicole Kespe. „Weil am Wochenende und abends nicht der Notarzt gerufen werden muss. Viele bleiben ruhig, weil sie wissen, wenn sie nicht zurechtkommen, haben sie einen Ausweg.“ Auch die Metzgers haben die Nummer gewählt. Aber auch Ralph Metzger sagt: „Die Existenz der Nummer ist wichtiger.“
Von der Arbeit nimmt Nicole Kespe „höchstens mal einen guten Gedanken“ mit nach Hause. „Wichtig ist: Wir sind nicht betroffen. Wir erkennen ja oft hinterher auf den Fotos in den Todesanzeigen den Menschen gar nicht wieder, den wir betreut haben. Und es ist natürlich einfacher, weil wir nur eine kurze Zeit in den Familien sind.“ Abschied nimmt das Team trotzdem von jedem Verstorbenen, zusammen mit dem evangelischen Seelsorger Thilo Walz aus Großostheim. Er ist für die seelsorgerische Versorgung der Patienten da, aber auch das Team braucht ihn zum Abschiednehmen. Die Woche beginnt mit der Erinnerung bei der montäglichen Dienstbesprechung. Dann erst geht es um die Lebenden, die bald Erinnerung werden – eine gute.
Susanne von Mach
Zur Person
Nicole Kespe (35) ist examinierte Krankenschwester und ausgebildete Palliativ Care Fachpflegekraft. Ihre erste Anstellung hatte sie im Krankenhaus, arbeitete nach der Elternzeit in einem ambulanten Pflegedienst und machte parallel dazu die Ausbildung zur Palliativ Care Fachpflegekraft. Direkt nach dem Ausbildungsjahr begann sie in einem hessischen SAPV-Team zu arbeiten, bevor sie im August nach Aschaffenburg wechselte. Sie wohnt in Freigericht und hat eine Tochter.