Main Echo: Mittwoch, 09.05.2012
Sterben dürfen, wo man will
Medizin und Pflege: Hospizgruppe Aschaffenburg baut »spezialisierte ambulante Palliativversorgung« am Untermain auf
Aschaffenburg 80 Prozent der Menschen würden am liebsten zu Hause sterben, tatsächlich sterben jedoch 80 Prozent in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Auf diese Einschätzung des Soziologen Reimer Gronemeyer beruft sich die Hospizgruppe Aschaffenburg, die ab 2013 am bayerischen Untermain eine Lücke zwischen stationären Einrichtungen, Ärzten und Pflegediensten schließen will: mit dem Aufbau einer »spezialisierten ambulanten Palliativversorgung« (SAPV).
Gesetzlicher Anspruch
Deren Kerngedanke folgt dem Wunsch, dort sterben zu dürfen, wo man will: Spezialisierte und professionelle Arzt-Pflege-Teams sollen Todkranke am Lebensende zu Hause oder bei ihren Angehörigen versorgen. Der in der allgemeinen Altenpflege geltende Grundsatz »ambulant vor stationär« soll damit auch auf Palliativpatienten angewandt werden. Wer an einer »nicht heilbaren, fortschreitenden und weit fortgeschrittenen Erkrankung bei einer zugleich begrenzten Lebenserwartung« leidet und besonders aufwendige Versorgung benötigt, hat seit 2007 auch einen gesetzlichen Anspruch darauf.
Doch laut Steffen Naumann, Koordinator der Hospizgruppe, klaffen Theorie und Wirklichkeit weit auseinander: Es mangele an der Koordination bestehender Strukturen; niedergelassene Ärzte gerade auf dem Land stießen allein aus logistischen Gründen ebenso an ihre Grenzen wie ehrenamtliche Dienste, zu denen seit 1993 die Hospizgruppe selbst gehört; im Hospiz Alzenau und in der Aschaffenburger Klinik für Palliativmedizin (je acht Betten) gebe es Wartelisten, in den Krankenhäusern Miltenberg und Erlenbach keine Palliativstationen; auf die Seniorenpflegeheime wachse der Druck, Spezialplätze vorzuhalten.
Eine »mobile Palliativstation«
All diese bestehenden Angebote ergänzen soll die »mobile Palliativstation«, wie der Goldbacher Palliativmediziner und Hospizgruppen-Vorsitzender Max Strüder das geplante SAPV-Team nennt. »Wir sind aber keine Konkurrenz und nehmen niemandem Patienten weg«, betont Steffen Naumann, »das Kernteam braucht vielmehr Unterstützung von außen«. Die Rede ist von einem »ganzheitlichen Ansatz innerhalb eines multiprofessionellen Netzwerks«.
Dabei sein sollen dann erfahrene Profis wie der Internist, Palliativmediziner und Onkologe Wolfgang Grimm, der seit Jahren auf der Aschaffenburger Palliativstation arbeitet und am Konzept mitgefeilt hat. Er betont: Die Patienten und deren Angehörige sollen künftig nicht nur Tag und Nacht auf Mediziner und spezielle Pflegekräfte zurückgreifen können, sondern auch auf Sozialarbeiter, Seelsorger oder Psychotherapeuten.
In einem ersten Schritt sollen Anfang kommenden Jahres fünf bis sechs spezialisierte Ärzte und Pfleger in Stadt und Kreis Aschaffenburg (241 000 Einwohner) rund um die Uhr bereitstehen. Das entspräche den Berechnungen der bayerischen Staatsregierung, die einen Bedarf von 50 Teams im Freistaat errechnet hat - eines für 250 000 Einwohner. (Bislang gibt es erst 16 Teams in Bayern.) In einem zweiten Schritt ist eine »Niederlassung« im Landkreis Miltenberg geplant.
Doch das ist Zukunftsmusik: Im Moment laufen die Verhandlungen mit den Kassen, die die Leistungen des SAPV-Teams voll bezahlen sollen. Weil der Wettbewerb in der ambulanten Palliativversorgung ausgeschlossen ist, dürfte es bald eine Einigung geben.
Am Anfang Spenden nötig
Eine Hürde ist aber noch zu nehmen: Die Anschubfinanzierung in Höhe von mindestens 250 000 Euro für Geräte, Fahrzeuge oder Räume muss der Träger bereitstellen - in diesem Fall also die Hospizgruppe, die das SAPV-Team Bayerischer Untermain als gemeinnützige GmbH gründet. Neben Eigenmitteln, Stiftungsgeldern und öffentlichen Zuschüssen ist man deshalb auf Spenden angewiesen. Später trägt sich der Dienst selbst.
Er soll dann für das große Ziel arbeiten: zu Hause ein menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben ermöglichen, bis zuletzt. Jens Raab
Informationen und Spendenkonto:
www.hospizgruppe-aschaffenburg.de
www.sapv-bu.de
Hintergrund: Hospizbewegung und Palliativversorgung
Unter anderem durch den demografischen Wandel ist die Anfang der 1970er Jahren entstandene Hospizbewegung und die würdige Begleitung Schwerstkranker und Sterbender verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Hauptanliegen der Bewegung: Todkranke ohne Aussicht auf Heilung nicht allein lassen sowie deren körperliche und psychosoziale Symptome lindern, um die Qualität ihrer letzten Lebensphase zu verbessern. Parallel dazu ist die Begleitung des Sterbens als ärztliche Aufgabe »wiederentdeckt« worden, hat sich die Spezialdisziplin Palliativmedizin (vom lateinischen Pallium: Mantel) entwickelt. 1983 entstand die erste deutsche Palliativstation, seither stieg die Zahl stationärer Hospiz- und Palliativeinrichtungen wie die Klinik für Palliativmedizin am Klinikum Aschaffenburg stetig. Erst in jüngerer Vergangenheit werden vermehrt ambulante Versorgungsmodelle entwickelt. (JhR)